Claudia Benthien
ifk Senior Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. März 2006 bis 30. Juni 2006

Scham und Schuld



PROJEKTBESCHREIBUNG

Wissenschaftshistorisch ist für das Verhältnis von Scham und Schuld die These einschlägig, dass sich Kulturen in Scham- und Schuldkulturen einteilen lassen. Sie wurde u. a. von der Anthropologin Ruth Benedict und dem Altphilologen Eric R. Dodds entwickelt, gilt zwar als umstritten, erlangt jedoch im Kontext aktueller Kulturkonflikte neue Relevanz. Leitendes Kriterium der Unterscheidung ist, ob es die Möglichkeit gibt, den Affekt durch Konfession, Buße oder Strafen zu verarbeiten, was in Schuldkulturen der Fall ist, in Schamkulturen nicht. Während Schuld auf einen "Kodex idealer Handlungen" referiere, beziehe sich Scham auf das "Bild des idealen Selbst", so der Psychoanalytiker Léon Wurmser. Die Soziologin Vessela Misheva hat überdies betont, dass der Scham eine visuelle Struktur zugrunde liege, der Schuld hingegen eine auditive: In Situationen der Beschämung sei kaum von visueller Bloßstellung zu abstrahieren, in solchen der Schuld sei demgegenüber eher eine "Stimme" (des Über-Ichs, des Gesetzes) zu hören. Ausgehend von derartigen kulturtheoretischen Differenzierungen sollen einerseits Tragödien um 1800 untersucht werden, die in divergenten historisch-kulturellen Kontexten angesiedelt sind. Den Schwerpunkt bilden Werke von Friedrich Schiller ("Die Jungfrau von Orleans", "Die Braut von Messina") und Heinrich von Kleist ("Die Familie Schroffenstein", "Penthesilea"). Andererseits soll die Fragestellung interdisziplinär erweitert und mithilfe einer Forschergruppe auf übergreifende Kulturkonflikte appliziert werden. Während des IFK_Aufenthalts stehen besonders jene Aspekte des Projekts im Mittelpunkt, die mit dem Forschungsschwerpunkt "Kulturen des Blicks" korrespondieren, d. h. Fragen nach den Blickkonstellationen und visuellen Evidenzen von Scham und Schuld.



CV

Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg



Publikationen

U. a.: Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse, Reinbek 1999; gem. mit Anne Fleig und Ingrid Kasten (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln/
Weimar 2000; gem. mit Christoph Wulf (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek 2001; gem. mit Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002; gem. mit Inge Stephan (Hg.), Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar 2003; gem. mit Inge Stephan (Hg.), Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar 2005; gem. mit Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006; Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert, Paderborn 2006.