28 Oktober 2019
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ALS DIE TÖNE SICHTBAR WURDEN: DIE ERFINDUNG EUROPÄISCHER NOTENSCHRIFT IM NEUNTEN JAHRHUNDERT

18:00

Im neunten Jahrhundert kamen nördlich der Alpen neuartige Zeichensysteme auf, die es erstmals ermöglichten, die beim Singen von der Stimme ausgeführten Tonbewegungen sichtbar zu machen: eine mittelalterliche Erfindung, für die es keine antiken Vorbilder gab und ohne die es die neuzeitliche Notenschrift nicht gäbe.

 Die Anwendung der sogenannten Neumennotationen auf die Kantilene des Kultgesangs der Kirche seit der Karolingerzeit bedeutete eine Weichenstellung in Richtung des geschichtlichen Sonderwegs, den Europa seitdem in der Domäne des (im neuzeitlichen Sinne) Musikalischen eingeschlagen hat. Statt die scheinbar geradlinigen Folgen der Erfindung aber kurzerhand in einer musikkulturellen Erfolgsbilanz Lateineuropas zu verbuchen, fragt Andreas Haug erstens – aus einer medientheoretisch reflektierten Perspektive – nach den Effekten einer stillstellenden Sichtbarmachung von Tonbewegungen, die sie nicht in einem notationstranszendenten Zustand melodischer Oralität, sondern in einem von der Notation kontaminierten Zustand melodischer Textualität sichtbar, überwachbar und verfügbar machte; zweitens arbeitet er – aus einer kulturvergleichenden Perspektive – die religionspolitischen und wissenssoziologischen Faktoren heraus, deren Zusammentreffen die Entwicklung des neuen Mediums ermöglicht und seinen geschichtlichen Erfolg bedingt oder begünstigt hat; drittens versucht er die diskursgeschichtlichen Bedingungen aufzuspüren, unter denen die melodischen Parameter der vokalen Performanz sakraler Texte, die in anderen buchreligiösen Textkulturen unterhalb der Sichtbarkeitsschwelle gehalten wurden, in einer dieser Kulturen zur Sichtbarmachung freigegeben wurden.

Andreas Haug ist Inhaber des Lehrstuhls für Musik des vorneuzeitlichen Europa am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Zusammen mit dem Informatiker Frank Puppe leitet er das digitale Editionsvorhaben „Corpus monodicum. Die einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters“. Derzeit ist er IFK_Senior Fellow.

 

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