16 Mai 2011
  • Lecture
IFK

Warten, Ausharren, Aufschieben. Literarisches Warten um 1900

Nicht nur die Geschwindigkeit, auch das Warten, die Entschleunigung, gewinnt um 1900 eine neue Bedeutung: Passive und zögerliche Antihelden bevölkern die Literatur. Andrea Erwig geht in ihrem Vortrag den Erscheinungsformen des Wartens nach.



„Alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Stehen bliebe?“, fragt der Protagonist aus Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von 1910. Dieses Zitat führt ein Phänomen vor Augen, das am Ende des 19. Jahrhunderts in der europäischen Literatur an eigentümlicher Prominenz gewinnt und die modernen Vorstellungen von einer aktiv gestaltbaren Zukunft und eines progressiven Fortschreitens von Geschichte unterwandert: das Warten. An die Stelle von zielgerichteten Zukunftserwartungen mit Aussicht auf Erfüllung tritt ein dauerhaftes, mitunter aussichtsloses und leeres Warten – ein Warten, dem Objekt und Intention abhanden gekommen sind. Vor dem Hintergrund der sprachtheoretischen und ästhetischen Reflexionen um 1900 lässt sich dieses Warten als Symptom einer produktiven Krise lesen. Es wird zu einer poetologischen Reflexionsfigur für neue Wahrnehmungsweisen und Formen des Erzählens. Eine Reihe von Autoren experimentiert um diese Zeit mit der Darstellung von Wartezeiten und -räumen, darunter Rilke und Maurice Maeterlinck, nicht zuletzt aber auch Robert Musil in seinen frühen Erzählungen. Andrea Erwig geht am Beispiel von Robert Musils Novelle „Die Vollendung der Liebe“ von 1911 unterschiedlichen Konstellationen des Wartens nach und begibt sich auf die Spur von handlungsgehemmten, ausharrenden und zögernden (Anti-)Helden. Dabei weist sie Verbindungen zu Freuds und Breuers „Studien über Hysterie“ (1895) auf und fragt nach der Verknüpfung des Wartens mit Diskursen über Langeweile und Zerstreuung.

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