Andreas Gehrlach
ifk Research Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. Oktober 2020 bis 31. Januar 2021

„Knie nieder, beweg die Lippen zum Gebet, und du wirst glauben!“ Die Kulturgeschichte des Kniefalls



PROJEKTBESCHREIBUNG

Was geschieht, wenn jemand auf die Knie geht? Das Niederknien ist eine der bekanntesten und offensichtlichsten Gesten der Unterwerfung, aber bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass sie nicht einfach zu verstehen ist. Schon im Gilgamesch-Epos wird das Knien als eine Körpertechnik beschrieben, die erlernt werden muss, um zu einem kultivierten Menschen zu werden. Das macht das Niederknien nicht nur zur ältesten kontinuierlich angewendeten Körpertechnik unserer Kultur, sondern es bedeutet auch, dass unserer Kultur die Annahme zugrunde liegt, dass der Mensch dadurch zum Menschen wird, dass er sich in Hierarchien einordnet. In der Kulturgeschichte gab es zu allen Zeiten Debatten um die Funktion und den Grund des Niederkniens, das Alexander der Große als der erste Herrscher einzuführen versuchte. Auch für Augustinus und Thomas von Aquin war es begründungsbedürftig, dass man beim Beten knien sollte, denn Gott brauche diese Unterwerfungsgeste nicht, sie sei rein für den Menschen und die Stärkung seiner innerlichen Hinwendung zu Gott. Louis Althusser sagte einmal, dabei Pascal etwas falsch zitierend, dass man überhaupt erst zu glauben lernt, indem man niederkniet und zu beten vorgibt, und er setzte, ohne es zu wissen, diese sehr alte theologisch-politische Überlegung fort: Wer kniet, verinnerlicht damit erst den Grund seines Kniens.

Das Forschungsprojekt widmet sich den vielfältigen kulturtheoretischen, historischen, philosophischen und theologischen Überlegungen zum Niederknien. Der Kniefall wird dabei als eine Theorieszene betrachtet, die historisch erstaunlich konstant ist. Es soll dabei aber nicht nur über das Knie als „Gehorsamsorgan“ des Menschen nachgedacht werden, sondern auch die Frage untersucht werden, was Hierarchien überhaupt sind und weshalb Menschen so viel Mühe darauf verwenden, Rangunterschiede zwischen Menschen, Göttern, Geschlechtern, Rassen und anderen kontingenten Gruppen in Körpertechniken, Bildern, Texten und Zeremonien darzustellen und zu affirmieren. Ausgehend von der Benutzung des eigentlich eher unscheinbaren Gelenks zwischen Schenkel und Wade kann so über die Frage nach dem Willen zur Unterwerfung und dem Willen zur Herrschaft nachgedacht werden.



CV

Andreas Gehrlach, 1981 geboren, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte in Tübingen und ist Wissenschafter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Er schrieb seine Doktorarbeit über Diebstahlserzählungen als Gründungsmythen an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität Berlin und in Tübingen im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts zur Kulturgeschichte des Diebstahls. Er ist Organisator der Vorlesungsreihe Psychoanalytische Kulturwissenschaft in Berlin und Mitherausgeber der Buchreihe Undisziplinierte Bücher bei De Gruyter.

Als Gastwissenschafter hielt er sich an der University of Chicago und an der University of Cambridge auf. Seine Forschung beschäftigt sich mit modernen und antiken Kulturtheorien und umkreist prekäre, kriminelle und politische Ökonomien. Insbesondere Fragen des Eigentums, des Mythos und der Utopie und Fragen nach der Legitimierung und Kritik von Herrschaft sind für ihn relevant.

 



Publikationen

Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums, Berlin 2020; „Die Macht, die im Schatten liegt. Elemente einer kynisch-performativen Philosophie der Wahrheitsverdunkelung“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2/2016, S. 367–392; Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos, Paderborn 2016.

 



09 November 2020
18:15
  • Lecture
IFK@Zoom
Andreas Gehrlach

IFK_LIVE: „Knie nieder, beweg die Lippen zum Gebet, und du wirst glauben!“ Die Kulturgeschichte des Kniefalls

Das Knien ist eine der wichtigsten Gesten zur Hierarchieherstellung – aber ist sie nur das? Im Knien geschieht immer auch ein Lernprozess, in dem Hierarchien überhaupt erst sichtbar gemacht, aber gleichzeitig auch verinnerlicht werden. Die Kulturgeschichte des Kniens ist so alt wie unerforscht, und sie nimmt ausgesprochen unerwartete Wendungen.

 

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