04 April 2011
  • Lecture

Moderne Tarantelbesessene? Ein mythischer Sommer im Salento 1959 und seine Folgen

Bis in die 1980er-Jahre waren sie zu bestimmten Zeiten des Jahres in den Straßen Südapuliens präsent: die Tarantelbesessenen. Meist junge Frauen, die „wie von der Tarantel gestochen“ tanzten und mitunter sogar ihre Mitmenschen attackierten. Darüber, wie sich dieses Phänomen in Ethnologie und Literatur niederschlägt, spricht Alexandra Rieder.

 



An der südöstlichen Spitze Italiens, im Salento, kommt es jahrhundertelang zu einem Ereignis, in welchem sich vor allem Frauen einige Tage oder eine Woche hysterisch gebärden und aus ihrem Alltag für einige Zeit austreten: Frauen imitieren das Bellen eines Hundes, stöhnen, wälzen sich am Boden und tanzen eine unglaubliche Anzahl von Stunden pro Tag zum Rhythmus der pizzica: die salentinischen Tarantelbesessenen (tarantate). War es ein Mythos, Aberglaube oder Ausdruck süditalienischer Rückständigkeit? Alexandra Rieder geht in ihrem Vortrag den Spuren des apulischen Tarantismus nach. Dabei legt sie besonderes Augenmerk auf die „mythische“ Forschungsreise des berühmten Anthropologen Ernesto De Martino im Salento des Sommers 1959. Sie versteht den Tarantismus als intermediales Phänomen, das sich in Fotografie, Dokumentar- und Spielfilm und anthropologischer Literatur niederschlägt. In den 1980er-Jahren verschwindet er von den Straßen Südapuliens, bis uns schließlich transgressive, leidende, nomadische Protagonistinnen in der italienischen Gegenwartsliteratur (u. a. Angelo Morinos „Rosso taranta“) wiederbegegnen – den klassischen Spinnenopfern sind diese Heldinnen nicht so unähnlich.

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