Literarische Mehrsprachigkeit/ Multilinguisme Littéraire

Der russische Historiker Aaron Gurjewitsch bevorzugt für seine Forschungen zur Herausbildung des Individuums im Mittelalter altnordische Quellen, weil diese, so schreibt er, nicht der Verzerrung der Übersetzung ins Lateinische unterlägen. Jorge Semprún hat vor kurzem einen Band über seine Erfahrungen als Kulturminister in Spanien zugleich auf Französisch und Spanisch vorgelegt, wobei laut Semprún der spanische Text aus dem französischen entstanden ist; eine erste genauere Betrachtung ergibt Unterschiede in den beiden Texten, welche mehr als nur Nuancen betreffen; bereits die Titel deuten sie an (Federico Sánchez vous salue bien gegen Federico Sánchez se despide de Ustedes). 


Wir kennen alle das Scheitern des Übersetzers, sobald es um Wortspiele geht. Hier kann etwa die deutsche Übersetzung von Semprúns Algarabie Illustrationen liefern; Traugott König, der gewiss einer der wortmächtigsten Übersetzer aus dem Französischen war, hat nach Absprache mit Semprún einige Passagen nicht in die deutsche Ausgabe übernommen. Sie beruhen auf der Sprachkombination Französisch-Spanisch und lassen sich praktisch aufgrund des Zusammenspiels von Form und Inhalt nicht wiedergeben. Dagegen steht das berühmte Wort von Roman Jakobson, dass die Sprachen sich nicht durch das unterscheiden, was sie ausdrücken können, sondern durch das, was sie ausdrücken müssen. Und nicht zuletzt gehen alle Sprachwissenschaftler, und besonders jene, die sich mit Minderheiten befassen, davon aus, dass grundsätzlich alle Sprachen alle Inhalte ausdrücken können. Nur liegt zwischen dieser unbestrittenen Potentialität und ihrer Umsetzung in reale Sprachpraxis und Kommunikation eine Hürde, die erst überwunden werden muss. Und wir wissen, dass dieses Hindernis hoch ist. Mit anderen Worten: nicht jeder Inhalt ist zu jeder Zeit in jeder Sprache formulierbar. 

ISBN: 3-901505 05 9
Verlag: IFK